"Vom Odenwald nach Europa" - ein Bericht von Michael Rupprecht
Gestern war Abschlussfeier. Vor mir liegt mein Zeugnis. Die Schule ist abgehakt. Wie geht es jetzt weiter? In welche Richtung bewege ich mich und zu welchem Ziel? In den vergangenen Monaten habe ich mich immer wieder umgehört, gelesen, mir Infos aus dem Internet geholt und Studienpläne verschiedener Fachrichtungen besorgt, um mein Ausbildungsziel zu finden und den Ausbildungsvorgang zu planen. Was will ich? Was kann ich? Was ist realistisch? Kein einfaches Puzzlespiel. Das Ergebnis meiner Überlegungen: BWL und Logistik scheinen mir die Wirtschafts- und Organisationsform zu sein, die maßgeblich zum Funktionieren unserer modernen Gesellschaft mit verantworten, indem sie die Arbeitsgrundlagen für Verwaltung und Organisation vorgeben. So meine Überlegungen, ob es vielleicht eine Möglichkeit gibt, einen konkreten Einblick zu gewinnen in einen Betrieb oder eine Behörde, in der betriebswirtschaftliche Arbeitsabläufe koordiniert werden? Angeregt und ermutigt durch eine Freundin der Familie sammelte ich Informationen über die Arbeit europäischer Behörden in Brüssel. Mit wachsendem Interesse erfuhr ich von der Vielfältigkeit der dort zu bearbeiteten Aufgaben, von der Vielzahl der dort versammelten Interessen und von der schwierigen Aufgabe all diese Strömungen, Notwendigkeiten und Zwänge zu koordinieren. Das wollte ich aus der Nähe erleben, am besten im Rahmen eines Praktikums. Ich bewarb mich bei Herrn Dr. Ulmer und hatte das Glück für 3 Monate als Praktikant in seinem Brüsseler Büro zu arbeiten. Ende Januar wurde es Ernst. Mit prallen Koffern und klopfendem Herzen machte ich mich auf nach Brüssel. Ein Zimmer hatte ich schon vorher gefunden. Nicht ganz leicht, nicht ganz billig, dafür aber nahe am Arbeitsplatz und zentral in der Stadt gelegen. Am 01. 02. 2010 war Dienstbeginn. Empfangen wurde ich von Paul Šefr, dem Assistenten von Dr. Ulmer. Es folgten Sicherheitsprüfung, Aushändigung der Identifikationskarte und Vorstellung der Mitarbeiter. Die Einweisung in meine künftigen Tätigkeiten füllte den Rest des Tages und den Vormittag des folgenden Tages. Nachdem ich mithilfe eines PC- Programms schnell gelernt hatte, mich im „Verwaltungslabyrinth“ zu orientieren, wurde ich mit folgenden Aufgaben betraut: Post holen und verteilen, Presseberichte ausdrucken und Herrn Dr. Ulmer vorlegen, Vorbereiten der Korrespondenz für die Beantwortung von Bürgeranfragen. Speziell letztere Aufgabe hat mich sehr viel Zeit gekostet, war aber auch spannend und lehrreich, weil ich mit gesellschaftspolitischen Themen und Problemen konfrontiert wurde, die mir bisher nicht bekannt waren oder die ich mir bislang nicht bewusst gemacht hatte. Zum Bespiel war ich erschrocken über die Menge an Singvögeln, die über Italien, Malta, Korsika und Sardinien der Jagdlust zum Opfer fallen und auf dem Teller der Feinschmecker landen. In Italien werden Jahr für Jahr etwa 17 Millionen Vögel geschossen. Zeit zum Dösen gab es wahrlich nicht, denn auch außerhalb des Büros war meine Mitarbeit erwünscht. So wurde ich beauftragt, bei Konferenzen anwesend zu sein, Protokolle zu führen, z. B. bei einem Treffen zur Sicherheit der EU-Erdgasversorgung. Äußerst angenehm waren die zahlreichen abendlichen Veranstaltungen, die von Parteien oder Verbänden organisiert wurden. Diese Abende sollten dem gegenseitigen Kennenlernen und Verstehen dienen, wobei das Eintauchen in das europäisch-babylonische Sprachgewirr eine Sache für sich war. Echte Verständnisprobleme traten zu meiner Verblüffung aber nie auf. Informativ und unterhaltsam waren auch die Veranstaltungen der Landesvertretungen, zu denen ich wiederholt eingeladen war - nicht zuletzt wegen des internationalen Publikums und den politischen Persönlichkeiten, denen man hier begegnen konnte. So hatte ich einmal das Glück, unserem Energiekommissar Herrn Oettinger die Hand zu schütteln. Für Aktivitäten in der Freizeit bietet Brüssel reichliche Möglichkeiten: Besichtigung des Atomiums mit einem sagenhaften Rundblick – das Modell des Atomiums steht jetzt bei mir zu Hause auf dem Schreibtisch. Beim „Manneken Pis“ trifft man den internationalen Tourismus. Neben den berühmten Pommesbuden, den zig Biersorten und Pralinengeschäften bietet Brüssel auch dem kunstinteressierten Publikum sehr viele Anlaufstellen. Mein Lieblingsmuseum war das Militärmuseum mit einer Vielzahl von Exponaten und Informationen. Am 30. 04. 2010 war mein letzter Tag, nach einem kleinen Abschiedsumtrunk, einem herzlichen Dankeschön an das Büro, habe ich meine Koffer gepackt, mich von meiner Wirtin verabschiedet, um mich dann mit ein wenig Wehmut auf den Heimweg zu machen. Wie viele neue Erfahrungen ich gesammelt habe, wird mir wahrscheinlich erst im Laufe der nächsten Wochen klar.
