Pressemitteilungen 2008 von Dr. Thomas Ulmer MdEP
Vertrag von Lissabon: Foulspiel der Iren
"Ich habe es kommen sehen." Dr. Thomas Ulmer, Europaabgeordneter der CDU in Nordbaden, hatte befürchtet, dass Irland gegen den Vertrag von Lissabon stimmen würde. "Es ist immer problematisch, wenn man ein einzelnes Land abstimmen lässt. Dass die Bevölkerung mit "Nein" stimmen würde war absehbar. Ein "Ja" hätte emotional für die Iren bedeutet, dass der "Schnellzug Europa" an ihnen vorbeirast, ohne nach rechts und nach links zu schauen. Ein Referendum eines einzigen Volkes über einen hunderte Seiten langen Text, voller Paragraphen, ist wenig sinnvoll, in keinem Mitgliedsstaat. Eine Abstimmung der gesamten EU-Bevölkerung, an einem Tag in der ganzen Union, an dem die Bürger über ihre Gemeinschaft abstimmen sollen: "Wollt ihr unser gemeinsames Europa?", das wäre eine Alternative, eine europäische Identität zu fördern."
Dr. Ulmer ist sich sicher: "Es macht keinen Sinn, über einzelne Paragraphen abstimmen zu lassen. Wir müssen es schaffen, dass sich die Bürger Europas mit dieser einzigartigen Gemeinschaft identifizieren. Dieses Projekt ist viel zu wertvoll, als dass es an Paragraphen scheitern dürfte." An dem Referendum konnte man klar erkennen, dass Europa noch immer als Verwaltungsgemeinschaft betrachtet wird. Das ist nicht richtig und muss sich endlich in den Köpfen der Menschen ändern. Europa ist eine Wertegemeinschaft, ein Leuchtturm für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit, der auf der ganzen Welt hierfür bewundert wird. Aber auch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten müssen Ihren Beitrag hierfür leisten. Wir müssen es schaffen, dass sich die Bürger der Union mit Europa identifizieren, dass sie die Vorteile ihrer Gemeinschaft sehen. Oft wird in den Mitgliedsstaaten Europa als Generalschuldiger benutzt, wenn in der Heimat Probleme auftreten. Damit muss Schluss sein, wenn unsere Gemeinschaft zusammenwachsen soll. Um weiter zusammenwachsen zu können, ist es auch wichtig, dass für die nächsten 20, 25 Jahre keine weiteren Staaten in die Union aufgenommen werden. Die Bürger der EU, insbesondere jene kleinerer Mitgliedsstaaten, brauchen Sicherheit, dass sie in dieser Gemeinschaft nicht überrollt werden und untergehen.
Kein anderes Land hat so stark von der Europäischen Union profitiert wie die irische Republik. Mehr als 55 Milliarden Euro sind als Unterstützung - meist in Form von Strukturhilfen der EU - nach Irland geflossen. Irland hinkte über Jahrzehnte hinweg als Agrarstaat und Opfer dahinsiechender Schwer- und Schiffbauindustrie dem modernen Kontinentaleuropa hinterher. Die Arbeitslosigkeit war hoch, die junge Generation Irlands emigrierte.
Dieses Schicksal wurde durch kräftige Investitionsanreize, eine große finanzielle Unterstützung der EU und bessere Ausbildung der Bevölkerung dramatisch verändert. Der wirtschaftliche Aufschwung mit zweistelligen Wachstumsraten war so atemberaubend, dass Irland mit den damals aufstrebenden Schwellenländern Asiens verglichen und daher als "keltischer Tiger" bejubelt wurde. Der Lebensstandard der Iren ist heute, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, nach Luxemburg der höchste in der gesamten EU.
Jetzt schockierte das Vorzeige-Land mit der Ablehnung des EU-Reformvertrags. Der Vertrag von Lissabon, der im vergangenen Jahr unterzeichnet und nun bereits von 18 Staaten ratifiziert wurde, sollte die Europäische Union fit für die Zukunft machen, die Zusammenarbeit der 27 Mitgliedsstaaten erleichtern, Transparenz, Demokratie und Effizienz fördern. Das Europäische Parlament sollte als einzige von den Bürgern der EU demokratisch gewählte Instanz entscheidend in seinen Kompetenzen gestärkt werden.
Warum lehnten die Iren diesen Vertrag ab? In Irland hatte sich eine unheilige Allianz von Gegnern der "Bürokraten in Brüssel", von erzkonservativen Landwirten und Euroskeptikern, von Globalisierungsgegnern, Populisten der extremen Rechten und Abtreibungsgegnern formiert. Sie nutzten jeweils ihre eigenen - meist falschen - Argumente, um den Widerstand zu schüren.
Brüssel werde die politische Neutralität Irlands gefährden, werde das Land abhängiger machen von der EU, den günstigen Körperschaftssteuersatz von 12,5 Prozent abschaffen und eine Aufhebung des Abtreibungsverbots in dem streng katholischen Land erzwingen. Zahlreiche dieser Behauptungen widersprechen explizit den Zusicherungen Brüssels. Doch der Inhalt des Reformvertrags von Lissabon interessierte bei dieser Angsttreiberei eigentlich überhaupt nicht.
Inzwischen betonte der irische Außenminister mehrfach, dass sein Land ein "volles, begeistertes Mitglied der Union ist und auch bleiben will". In den Medien häuften sich derweil viele gut gemeinte Ratschläge, wie die Union mit diesem Rückschlag umgehen sollte: Es wird über eine erneute Denkpause, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, eine erneute Volksabstimmung und sogar einen vorläufigen Ausstieg der Iren aus dem Integrationsprozess diskutiert. Am kommenden Donnerstag und Freitag wollen die Staats- und Regierungschefs der EU nun in Brüssel versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.
Klar ist nur eines: Man darf Irland, auch wenn es zu den kleinsten Mitgliedsstaaten gehört - die Republik stellt 1 Prozent der EU-Bevölkerung und 1 Prozent der Wirtschaftsleistung der gesamten Union - nicht überfahren. Wir müssen dieses Votum ernst nehmen und wir müssen Ursachen, Hintergründe und das Ergebnis des Referendums sauber trennen. Vielleicht ist so ein "Hilfeschrei", der zum Teil aus Unwissenheit, zum Teil aus Angst vor der Zukunft in unserem gemeinsamen Europa entstanden ist, auch wichtig. Wahrscheinlich ist noch nie so viel über die kleine Republik berichtet worden, wie in den letzten Tagen. Wahrscheinlich hat sich Europa noch nie so intensiv mit Irland beschäftigt, wie es nun der Fall ist. Das europäische Musterland hat die Union zum Nachdenken gezwungen."
